Ein Kind pro Klasse ist in der Schweiz von Mobbing betroffen. Eine neue Fachstelle will Gegensteuer geben.
Das Thema Mobbing an Schulen betrifft viele. Symbolbild: Roland Schlager/APA/APA
Mobbing stellt an Schulen ein grosses Problem dar. Wie eine Pisa-Studie von 2018 aufzeigt, ist mindestens ein Schulkind pro Klasse in der Schweiz in irgendeiner Form von Mobbing betroffen. Dieser unschönen Realität wollen Bettina Dénervaud aus Ballmoos (BE) und Pascal Kamber aus Buttisholz entgegenwirken: Gemeinsam bauen sie die neue Fachstelle gegen Mobbing an Schulen auf. Diese bietet Seminare an, in denen die Lehrer, Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen auf den Umgang mit Mobbing geschult werden. Auch interveniert die Fachstelle direkt vor Ort und hilft, Konflikte aufzulösen. Ratlose Eltern können Vorträge besuchen, oder eine telefonische Beratung bei der Fachstelle einholen.
Dabei verfolgt die Fachstelle den sogenannten «No Blame Approach» (NBA). Das bedeutet wörtlich übersetzt «Ansatz ohne Schuldzuweisung». Dabei wird von Sanktionen und Schuldzuweisungen abgesehen. Stattdessen werden die beteiligten Schüler in einen Gruppenprozess einbezogen, in dem sie konkrete Ideen entwickeln, um die Mobbing-Situation zu stoppen.
«Ich wollte nicht mehr wegschauen»
Bettina Dénervaud absolvierte eine Ausbildung an der Akademie für Lerncoaching in Zürich, wobei sie auch Module zum Thema Mobbing besuchte. In der Ausbildung wurde ihr der NBA vermittelt. «Ich begann, mich zu fragen, weshalb der NBA in Deutschland und mittlerweile auch Österreich flächendeckend bekannt ist und sich über die Jahre hinweg über alle Bundesländer und Schulformen ausgebreitet hat, in der Schweiz jedoch nur wenig bekannt ist», erklärt Dénervaud. Immer wieder las und hörte sie von Mobbing-Fällen, die teilweise dramatisch endeten. «Ich wollte nicht mehr wegschauen, sondern endlich handeln», sagt sie.
Die Suche nach einem Geschäftspartner erwies sich als anspruchsvoll. «Mobbing ist für viele ein schwieriges und komplexes Thema, womit sich keiner die Finger verbrennen will», erklärt Dénervaud. Zudem habe sie sich darum bemüht, Fördergelder von Bund und Kantonen zu erhalten. Erfolglos.
Als sie den Entschluss fasste, das Projekt alleine zu stemmen, ergab sich der Kontakt zu Pascal Kamber. Der Buttisholzer war im Elternrat an der Schule seiner Tochter engagiert. Er initiierte eine Arbeitsgruppe zum Thema Mobbing und kam dadurch mit Dénervaud in Kontakt. Schnell war beiden klar, dass sie zusammen etwas verändern wollen.
«Jedes Kind soll die Möglichkeit haben, ohne Angst und psychischen Stress durch die Schulzeit zu kommen.»
Die Schulzeit sei sehr prägend. «Nicht selten tragen Menschen die erlittenen Peinigungen und Demütigungen bis ins Erwachsenenalter weiter mit sich», so Kamber.
Die Fachstelle kann auch von Luzerner Schulen beigezogen werden. Charles Vincent, Dienststellenleiter Volksschulbildung Kanton Luzern, erklärt: «Aktuell sehe ich keine Zusammenarbeit vor, da es im Kanton Luzern andere Stellen gibt, die von den Schulen beigezogen werden können.» Dies seien zum Beispiel die Schulberatung der Dienststelle Volksschulbildung, die Schulsozialarbeiter oder der Schulpsychologische Dienst. Die Schulen können zwar die neue Fachstelle beiziehen, dies jedoch auf eigene Kosten. «Es ist sicher sinnvoll, wenn Mobbing in den Schulteams thematisiert wird, solange noch keine Vorfälle in der Schule bekannt sind, denn dann ist bei Vorliegen eines Falls klar, dass alle gleich reagieren», sagt Vincent. «Wir ermuntern die Schulverantwortlichen auch, bei Verdacht auf Mobbing unter den Lernenden rasch zu intervenieren und die Sache zu thematisieren.»
Hilfe holen ist kein Petzen
Eltern von gemobbten Kindern stehen vor vielen Fragen: Was sollen wir jetzt machen? Haben wir etwas falsch gemacht? «Erziehungsberechtigte sollten nichts überstürzen», sagt Kamber. Wichtig sei es, dass man dem Kind klarmache, dass Hilfe holen kein Petzen sei. Aussagen wie «Vielleicht musst du dich anders verhalten» seien zu vermeiden. Dies führe dazu, dass sich das Kind selbst Schuldzuweisungen mache. «Dem Kind soll deutlich erklärt werden, dass es keine Schuld trifft. Aber auch, dass es die Mobbing-Situation nicht einfach zu erdulden, sondern ein Recht auf Unterstützung hat», sagt Dénervaud. Die Mobber sollten nicht kontaktiert werden, weil die Situation dadurch meistens verschlimmert werde. Stattdessen müsse man als Familie gemeinsam die nächsten Schritte besprechen. Die Lehrperson sollte informiert werden, denn häufig bemerke die Lehrperson Mobbing gar nicht. Die Beratungsstelle von Dénervaud und Kamber kann miteinbezogen werden, damit Mobbing schnellstmöglich aufgelöst wird. «Wir können damit zwar das Mobbing nicht wie von Zauberhand beenden, bemühen uns aber, die Situation richtig einzuschätzen und Betroffenen aufgrund ihrer Erzählungen zu einem sinnvollen, zielgerichteten Vorgehen zu raten», so das Fazit der beiden Experten.