In den technisch anspruchsvollsten Kletterrouten rund um den Globus fühlt er sich zu Hause: Der 42-jährige Sörenberger Roger Schäli verdient sein Geld als professioneller Alpinist. Ein grosses Privileg, wie er sagt.
Aufgewachsen ist Roger Schäli in Sörenberg – dem Ort, wo er seine Leidenschaft zum Klettern entdeckte –, heute wohnt er in Interlaken. Sein Vater infizierte ihn mit dem Klettervirus. «In Sörenberg hatte man nicht viele andere Möglichkeiten als Klettern und Skifahren», sagt der kräftige Athlet mit lockigen Haaren. Schon früh trat Schäli der Jugendorganisation vom Schweizerischen Alpenclub SAC bei. Sein Lieblingsplatz in seiner Heimat ist die Schrattenfluh – dort kletterte er in seinen jungen Jahren besonders viel.
Heute gehört der gelernte Zimmermann zu den Besten in seinem Gebiet. In den Bergen sucht er sich stets neue Herausforderungen und findet dabei das ultimative Lebensgefühl. Die Szene kennt ihn als begnadeter Allrounder; steile Felswände sowie Eiswände sind sein Terrain. Schäli ist ein gesponserter Athlet, arbeitet nebenbei als Bergführer und hält Referate. 2015 realisierte er einen seiner bisher grössten sportlichen Erfolge: die Erstbegehung der Odyssee-Route, gemeinsam mit seinen beiden Freunden, dem Deutschen Extrembergsteiger Robert Jasper und dem Südtiroler Alpinisten Simon Gietl. Der Sörenberger bezeichnet diese Route als die aktuell schwerste Freikletterroute an der Eiger-Nordwand. Die Seilschaft kletterte die Route im Team-Rotpunkt-Stil. Rotpunkt bezeichnet in der Kletterei einen Begehungsstil, bei dem das Sicherungsseil nie belastet wird. Es handelt sich um natürliches Klettern, Haken und Seil dienen ausschliesslich der Sicherung.
«Darauf bin ich stolz», sagt Schäli bescheiden. Seine zahlreichen Pionierleistungen hängt er nicht an die grosse Glocke. Zeitrekorde reizen ihn nicht sonderlich – viel wichtiger ist ihm ein sauberer Kletterstil, bei dem er möglichst unabhängig ist und wenige Spuren hinterlässt. Ebenso wichtig ist ihm der Begleiter: «Der Seilpartner muss nicht nur technisch stark sein, sondern es muss auch die Sozialkompetenz stimmen. Man muss sich gegenseitig motivieren können.»
«Merci la Vie» – die neuste Route an der Eiger-Nordwand
Letzten Monat schaffte der 42-Jährige eine weitere Erstbegehung. Schäli kletterte eine neue Route an der Eiger-Nordwand – wiederum im Rotpunkt-Stil. Die klettertechnisch extrem herausfordernde Route hatte er letztes Jahr mit der Bündner Profikletterin Nina Caprez und dem Belgier Sean Villanueva selber errichtet – jetzt gelang ihm schliesslich als Erster die freie Durchsteigung. «Merci la Vie», so benannten die drei Bergsportler ihre neue Route.
Roger Schäli in der Eiger-Nordwand auf der neuen Route «Merci la Vie». Bild: Severin Karrer
Der Name hat eine besondere Bedeutung für die drei Bergsportler. «Leider sind schon viele gute Kollegen und Freunde von uns gegangen – auch am Eiger», sagt Schäli. Sie seien alle dankbar für die guten Zeiten, die sie in den Bergen verbringen können, und seien sich bewusst, welch ein Privileg sie damit hätten. Man merkt: Die Eiger-Nordwand ist sein Zuhause – seine liebste Wand.
«Der Eiger ist ein Naturwunder, ein Objekt der Herausforderung», schwärmt Schäli. Diese Masse an Fels und Eis sei im Alpenraum einzigartig. Über 50 Durchstiege auf verschiedensten Routen konnte er bereits auf sein Konto verbuchen. Unter dem Titel «Passion Eiger» hält er Referate und veröffentlichte in Zusammenarbeit mit dem Entlebucher Medienhaus ein Magazin.
Jetzt präsentiert er sein erstes Buch, dieses trägt ebenfalls den Namen «Passion Eiger». Es handelt von den Nordwandrouten aus den Jahren 1966 bis 1991 und ist das Ergebnis der Recherchen des Eiger-Historikers Rainer Rettner und des Alpinjournalists Jochen Hemmleb sowie der Erzählungen der früheren Pioniere am Eiger. Schäli ergänzt das Buch mit seinen eigenen Erfahrungsberichten aus dem neuen Jahrtausend – rund ein Drittel des Buches stamme von ihm. Das Buch sei ein guter Mix zwischen Geschichte und aktueller Zeit. «Es ist ein Muss für jeden, der Eiger-interessiert ist», sagt Schäli. Am 10. September findet die Präsentation des Buches im Kino Rex in Thun statt – ein Anlass in der Zentralschweiz folgt zu einem späteren Zeitpunkt.
Schwerer Unfall mit 16 Jahren
Die zahlreichen Erfolge am Eiger sind nicht selbstverständlich – es hätte auch anders kommen können. Als 16-Jähriger verunfallte Schäli beim Klettern an der Schrattenfluh schwer und stürzte rund 30 Meter in die Tiefe – ein prägendes Ereignis. Schäli sagt:
«An diesem Tag wurde mir ein zweites Leben geschenkt».
Das Klettern hat er nach dem Unfall nie infrage gestellt, er entwickelte allerdings ein neues Sicherheitsempfinden. Schäli resümiert: «Als Junger fühlte ich mich bis zum Unfall unsterblich» – der Unfall sei ein Warnschuss gewesen. Heute verspürt er eine enorme Dankbarkeit, dass er überhaupt in den Bergen klettern kann.
Schäli hat in seiner Laufbahn einige ihm nahestehenden Kletterkollegen verloren. Wie verarbeitet er solche Verluste? Er hält einen Moment inne und sagt: «Ich lasse es auf mich wirken und versuche, es nicht zu verdrängen.» Man müsse ehrlich zu sich selbst sein. Für Schäli fühlt es sich nach wie vor richtig an, als Bergsteiger unterwegs zu sein. Er geht jedoch bewusster mit dem Risiko um. Qualität statt Quantität, lautet sein Motto beim Klettern. Schäli hält fest: «Je routinierter man klettert, desto weniger Fehler verträgt es.»
«Wenn man Angst verspürt, hat man Warnzeichen übersehen»
Wenn Schäli in der Wand unterwegs ist, gilt seine Konzentration vollumfänglich dem Klettern – Platz für Ängste gibt es nicht.
«Für mich ist klar, dass Angst beim Klettern falsch ist – dann ist man bereits einen Schritt zu weit gegangen.»
Eine gesunde Nervosität sei normal, wenn die Nervosität zu Angst hinübergehe, dann habe man bereits einige Warnzeichen übersehen. Heikel werde es insbesondere dann, wenn das Wetter unerwartet umschlage – dies verursache Stress.
«Alle acht Gipfel zu überschreiten, ist ein Lebensziel von mir»
Eine «gesunde Nervosität» dürfte Roger Schäli auch bei seinen anstehenden Projekten verspüren. Letzten Herbst war er im nordindischen Himalaja-Gebiet unterwegs und musste seine Tour aufgrund von schlechtem Wetter abbrechen. Schäli will die Route wiederholen und dabei den Gipfel vom Meru erklimmen. Auch am südlichsten Ende von Südamerika wartet ein Highlight. In Patagonien will er nämlich zusammen mit seinem Kollegen Jonas Schild die gesamte Fitz-Roy-Traverse passieren, ohne zwischendurch ins Tal zurückzukehren – ein ambitioniertes Ziel.
Die Fitz-Roy-Traverse ist eine Bergkette mit acht Gipfeln. «Alle acht Gipfel zu überschreiten, ist ein Lebensziel von mir», sagt Schäli. Für die meisten Bergsteiger sei bereits die Besteigung von einem Gipfel dieses Bergmassivs ein Highlight. Ausserdem plant Schäli derzeit ein Grossprojekt im Alpenraum – mit genauen Details rückt er noch nicht raus. Er verrät nur, dass viele Leute in diesem Projekt involviert sind und dass ein Filmteam das Projekt begleiten wird. Genauere Informationen sollen nächsten Frühling folgen.