«Nur noch Trainieren, Essen, Arbeiten und Schlafen»: 27-Jährige spricht über ihre Sportsucht – und wie ihre Psyche darunter litt

Die heute 27-jährige Vanessa Mamie trieb exzessiv Sport – selbst bei Krankheit und Schmerzen. Wegen der Sportsucht gingen Freundschaften in die Brüche und ihre Psyche litt stark. Angefangen hatte alles mit einer anderen Sucht.

Frühmorgens, mittags und abends: Es gab eine Zeit, da besuchte Vanessa Mamie dreimal am Tag das Fitnessstudio. An manchen Tagen fuhr die Zürcherin über 200 Kilometer mit dem Rennrad oder sie rannte mehrmals pro Woche einen Halbmarathon. Sie achtete penibel darauf, sich gesund zu ernähren. Keine Kalorie zu viel. Die Erholung nach den Sporteinheiten kam stets zu kurz, anhaltende Müdigkeit und Antriebslosigkeit folgten. «Es gab Phasen, da schaffte ich es nicht mehr aus dem Bett. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, um meine Kleider zu waschen», sagt sie heute. 

Mamie trieb so viel Sport, dass starke Schmerzen am gesamten Körper hinzukamen. Nicht selten wurde ihr schwarz vor Augen – denn sie ignorierte sämtliche Warnzeichen ihres gebeutelten Körpers. 

 

«Es fühlte sich teilweise so an, als würde ich im Körper einer 80-Jährigen stecken.» 

 

Statt sich auszuruhen, schluckte sie schmerzlindernde Tabletten und trainierte hemmungslos weiter. Tag für Tag. Selbst mit Fieber, als sie sich eigentlich im Bett erholen sollte, schnürte sie sich die Sportschuhe – fiebersenkende Tabletten vor dem Training machten es möglich. Denn wenn sie einmal keinen Sport machen konnte, wurde sie nervös, war gereizt, schlief schlecht und bekam Angstzustände. 

 

Der Sport stand im Mittelpunkt ihres Lebens, er war ihre Droge. Auch das Sozialleben kam zu kurz: Ihre Freundinnen vertröstete sie stets mit Ausreden, das Training hatte immer Vorrang. «Ich habe viel gelogen», erinnert sich die heute 27-jährige Zürcherin. Was viele aus ihrem Umfeld damals nicht wussten: Mamie litt an einer Sportsucht. Bewegung bereitete ihr keine Freude, es war ein Zwang. Rückblickend sagt sie: 

 

«Mein Leben bestand nur noch aus Trainieren, Essen, Arbeiten und Schlafen.»

 

Vanessa Mamie war jahrelang sportsüchtig. Bild: Pascal Linder (Zürich, 28. März 2022)


Sport ist gesund, er kann jedoch auch süchtig machen. Sportsüchtige haben oftmals kein Gefühl dafür, wann sie eine Pause einlegen sollten. Für Betroffene stellt der Sport häufig einen Zwang dar, der im Mittelpunkt ihres Lebens steht. Experten gehen davon aus, dass 0,3 Prozent der Gesamtbevölkerung von Sportsucht betroffen sind. Sportsucht ist eine Verhaltenssucht und zählt genau gleich wie Kaufsucht zu den substanzungebundenen Süchten, wie Sportpsychologin Irma Heller erklärt. Gemäss Heller kann es verschiedene Auslöser dafür geben: So könne Sportsucht etwa als Reaktion nach belastenden Erfahrungen oder bei Schwierigkeiten mit der Emotionsregulation auftreten – häufig begleitend zu Essstörungen. Sportsucht wird noch nicht als eigenständige Krankheit anerkannt. Gemäss Heller ist Sportsucht nämlich noch unzureichend charakterisiert und eine genaue diagnostische Kategorisierung stehe noch aus. 


Heute geht es Vanessa Mamie wieder gut, sie hat einen gesunden Umgang mit Sport gefunden. Wir treffen sie im Aussenbereich eines Cafés an der Zürcher Seepromenade. Mamie trägt eine grosse, braune Sonnenbrille, in deren Gläser sich die Frühlingssonne spiegelt. Mehrere Tattoos zieren ihre trainierten Arme – Rosen, ein Schmetterling und eine Kuh mit aufgesetzter Krone. Am linken Handgelenk trägt sie eine Fitnessuhr. Auf diese könne sie bis heute nicht verzichten. Während sie einen Schluck von ihrer Cola Zero nimmt, sagt sie:

 

«Mich stresst es extrem, wenn ich Sport treibe, ohne es aufzuzeichnen.»

 

Sie brauche stets den Beweis der Uhr, dass sie etwas geleistet habe. Mamie wirkt ruhig und bedacht, während sie sich an ihre turbulenten Jahre zurückerinnert: «Ich habe wegen der Sportsucht sehr viel Zeit meines Lebens verloren», sagt sie fast schon abgeklärt. Zu oft habe sie auf die Dinge verzichtet, die junge Menschen in diesem Lebensabschnitt eigentlich tun würden. Denn bevor der Sport ihr ganzes Leben bestimmte, war Mamie jahrelang magersüchtig.

 

Trennung von Freund als Zünder

Vor etwa zwölf Jahren war Sport für Mamie noch kein Thema. Vielmehr genoss sie es zu essen, was sie wollte – ein normales Teenager-Leben. Dick war Mamie nie, sie sei früher lediglich ein wenig pummelig gewesen, wie sie selber sagt. Doch immer wieder hörte sie dumme Sprüche, ob von Freunden, in der Berufsschule oder am Arbeitsplatz. 

 

Die damalige Vorgesetzte von Mamie habe ihr einen Stapel Bewerbungsmappen auf den Tisch gelegt und gesagt: «Die Dicken kannst du gleich aussortieren, die sind sowieso faul.» Von anderer Seite hörte sie: «Wenn du nicht schlank bist, wirst du nie einen Mann finden.» Auch in ihrer Familie sei ihr von klein auf gesagt worden, dass sie nur schlank und sportlich Erfolg haben könne. Ihre Eltern hätten es nur gut gemeint, sagt Mamie heute. Doch solche Aussagen prägten sie nachhaltig.

 

Das Fass zum Überlaufen brachte letztlich die Trennung von ihrem damaligen Freund, einem Leistungsschwimmer. «Er hatte mich mit einer Frau mit perfektem Körper betrogen», erinnert sich Mamie. Neben der Trennung beeinflussten Bilder von schlanken Models auf Social Media ihre Selbstwahrnehmung negativ. Die damals 15-Jährige war mit ihrem Körper nicht mehr zufrieden. In der Folge begann sie im Fitnessstudio Gewichte zu stemmen und entdeckte das Joggen für sich. Sie rutschte wegen ihrer stark reduzierten Ernährung langsam in die Magersucht. Der Sport nahm zu jener Zeit noch nicht überhand, er bereitete ihr zunächst lediglich Freude.

 

Magersucht durch Sportsucht ersetzt

Der Tiefpunkt ihrer Magersucht war im Jahr 2014 erreicht – Mamies Körper war hager. Damals hatte sie sich zusammen mit ihrem Therapeuten entschieden, die Magersucht endlich zu besiegen. Mamie musste über mehrere Jahre hinweg wieder lernen, mehr zu essen, was ihr nicht einfach fiel: «Ich hatte Angst, dass ich zu den Losern gehöre, wenn ich zunehme.»

 

Sportlich aktiv zu sein, war für sie nicht nur ein Mittel zum Zweck, um Kalorien zu verbrennen; sie brauchte den Sport auch, um sich respektiert zu fühlen. Denn wer auf Kuchen verzichtet und viel Sport treibt, wird bewundert. Rückblickend sagt Mamie:

 

«Ich hatte einen sehr geringen Selbstwert und ständig das Gefühl, ich muss mir meinen Wert verdienen.»

 

Genau das kann gemäss Sportpsychologin Irma Heller gefährlich sein: «Oftmals wird Sportsucht verharmlost oder gar nicht erst bemerkt, da Sporttreiben sozial erwünscht und Bewegung grundsätzlich gesundheitsfördernd ist», erklärt die Expertin. Betroffene würden so oft Lob für ihren Willen und ihr Durchhaltevermögen erhalten, sagt die Sportpsychologin.

 

Als Mamie langsam wieder normal essen konnte, trieb sie immer mehr Sport. Sich körperlich zu betätigen, war ein Druckventil für sie:

 

«Wenn ich Sport trieb, hatte ich keine negativen Gedanken und ich musste mich nicht mit meinem Leben auseinandersetzen.»

 

Mamie verlor je länger, desto mehr die Kontrolle über ihr Sportpensum. Doch Kontrolle war eigentlich genau das, wonach sie stets strebte: Sie bezeichnet sich selber als Kontrollmensch – exzessives Sporttreiben gab ihr das Gefühl, ihren Körper voll und ganz kontrollieren zu können. «Ich habe die Magersucht durch die Sportsucht ersetzt», bilanziert sie diesen Lebensabschnitt.

 

Fitnessstudios sehen sich nicht in der Verantwortung

Wenn Mamie dreimal täglich ins Fitnessstudio ging, wurde sie vom Personal komisch angeschaut – dass ihr Trainingspensum nicht mehr gesund sei, sagte ihr dort trotzdem niemand. Mamie ist überzeugt, dass ihr auch ein Hausverbot im Fitnessstudio nichts gebracht hätte. Sie zieht den Vergleich mit Alkoholikern heran: Ein Alkoholiker könne schliesslich auch einfach in einen anderen Laden gehen oder sich den Alkohol anderweitig besorgen. Sie könne sich wiederum in einem anderen Studio anmelden oder ihre Grenzen einfach beim Sportlern draussen überschreiten.

 

Wie gehen grosse Anbieter mit dem Thema um? Activ Fitness ist die grösste Fitnesskette in der Schweiz – 116 Studios landesweit. Die Gruppe schreibt auf Anfrage: «Auffälligkeiten, die möglicherweise auf eine Sportsucht hindeuten, können verschiedene Ursachen haben. Diese Ursachen adäquat einzuordnen und eine Sportsucht festzustellen, liegt jedoch nicht in der Kompetenz unseres Personals, sondern bei medizinischem Fachpersonal.» Das Personal von Activ Fitness könne allerdings die Trainierenden vorsichtig auf eine möglicherweise gesundheitsschädliche Trainingsroutine hinweisen. Letztendlich gelte aber:

 

«Die eigentliche Verantwortung, jemanden vor einer Sportsucht zu schützen, obliegt dem Mitglied selbst.»

 

 

Sportsucht zerstörte Freundschaften

Der Sport rückte bei Mamie so weit in den Mittelpunkt ihres Lebens, dass sie ihr soziales Umfeld völlig vernachlässigte. Ihre Freunde bemängelten, dass Mamie nie Zeit für sie habe und ständig absage. Irgendwann wendeten sich ihre Freunde ab. Doch Mamie war das egal, denn für sie war es eine einfache Rechnung:

 

«Je weniger Freunde ich hatte, desto mehr Zeit blieb mir für den Sport.»

 

Die Sportsucht zerstörte nicht nur Freundschaften, sondern auch ihre psychische Gesundheit – Vanessa Mamie wurde depressiv. Sie besuchte regelmässig einen Psychologen, der ihr Medikamente verschrieb: «Ich habe sieben Jahre lang Antidepressiva eingenommen», sagt sie. Es habe Tage gegeben, da habe sie geweint, ohne genau zu wissen, weshalb. Sie verspürte eine innerliche Leere. Heute sagt sie:

 

«Ich hatte keine Energie und keine Lebensfreude mehr.»

 

Mamie hat sich entschlossen, mit ihren persönlichen Erfahrungen anderen Menschen mit Sportsucht zu helfen. Berufsbegleitend, neben ihrem Job als Kundenbetreuerin bei einer Immobilienfirma, studiert sie seit Oktober Ernährungspsychologie. Längerfristig will sie auch das Psychologiestudium anhängen und anderen Menschen mit psychischen Problemen helfen.

 

Auch bei Mamie war ein Psychologe massgeblich daran beteiligt, dass sie wieder auf die richtige Bahn gefunden hat. Es war Sommer 2020, mitten in der Coronapandemie, als sie selbst merkte, dass es so nicht weitergehen kann. Es habe ihr jeweils sehr geholfen, mit ihrem Psychologen über ihre Sportsucht zu sprechen. Doch auch eine weitere Person in ihrem Leben half ihr aus der Sucht:

 

«Wäre meine beste Kollegin nicht für mich da gewesen, wäre ich wohl heute noch sportsüchtig.»

 

Vanessa Mamie hat eine bewegte Zeit hinter sich. Bild: Pascal Linder (Zürich, 28. März 2022)

 

Sportliche Challenge steht an

Obschon Mamie ihre Sportsucht besiegt hat, gestaltet sich ihr Leben weiterhin überdurchschnittlich sportlich: Im Juni will sie mit einer Kollegin an einer Outdoor-Challenge teilnehmen. Das Programm: In 24 Stunden um den Zürichsee wandern, bei Tag und Nacht, 100 Kilometer.

 

Dieses Projekt könne sie ohne Leistungsdruck angehen – das Erlebnis stehe im Vordergrund. Dennoch: Auch bei der Wanderung wird sie einen eisernen Willen an den Tag legen müssen. Eine Eigenschaft, die sie bereits im Teenager-Alter erlangte.