«Hören, riechen und schauen»: Zu Besuch bei den Sicherheitshütern des Gotthards

Im Ripshausen-Areal in Erstfeld wird nichts dem Zufall überlassen: Im grössten Schwerverkehrszentrum der Schweiz kontrolliert die Kantonspolizei Uri jährlich über 15'000 Lastwagen auf technische Mängel – für mehr Sicherheit auf der Gotthardachse.

Nachmittags um halb drei. Es ist ein sonniger Julitag im Schwerverkehrszentrum Uri. Christof Theiler kriecht unter einen Lastwagen und inspiziert mit der Taschenlampe die Unterseite des Trucks – ein Anhängerzug mit polnischen Kontrollschildern. Seine Arbeit ist körperlich anstrengend: «Wenn man eine Woche lang nicht arbeitet, muss man weniger essen», scherzt der 48-Jährige, der hier seit vier Jahren als technischer Kontrolleur arbeitet. Theiler leuchtet auf die Stossdämpfer und sagt:

 

«Hier rostet es ziemlich. Das ist verdächtig.» 

 

Erst vorgestern habe er nämlich einen Lastwagen kontrolliert, bei dem die Stossdämpfer gerissen waren.

 

Christian Theiler zeigt bei der Kontrolle vollen Körpereinsatz. Bild: Pascal Linder (Erstfeld, 08. Juli 2022)

Während Theiler die Unterseite des Lastwagens unter die Lupe nimmt, sichtet sein Kollege Christian Blättler die Papiere des Chauffeurs und wertet dessen Datenschreiber aus. Hat der Chauffeur die Ruhezeiten eingehalten, ist er in fahrtüchtigem Zustand? Die Kontrollstelle gleicht einer Zollstation. In einem kleinen Häuschen eruieren die Experten mittels Lasermessung und Waagen, ob der Camion den Vorgaben bezüglich Grösse und Gewicht entspricht.

 


Schwerverkehrszentrum Uri

Das Schwerverkehrszentrum (SVZ) in Erstfeld ist das grösste von schweizweit zehn Kontrollzentren und sorgt zurzeit für 54 Vollzeitstellen mit 57 Mitarbeitenden. Im Auftrag des Bundes kontrolliert die Kantonspolizei Uri jährlich über 15'000 Lastwagen und Chauffeure. Der Bau des Zentrums kostete rund 70 Millionen Franken – die jährlichen Betriebskosten belaufen sich auf gut sechs Millionen Franken. Sämtliche Bussengelder aus den Kontrollen im SVZ fliessen in die Urner Staatskasse. 


Gut 20 Minuten zuvor ging den Kontrolleuren ein bulgarischer Sattelschlepper mit Überhöhe ins Netz: Die Federung der Hinterachsen war zu tief eingestellt, weshalb der Anhänger vorne wenige Zentimeter Überhöhe aufwies. Der Chauffeur des 16 Meter langen Camions musste die Federung anheben, konnte anschliessend aber weiter fahren. Er wurde verzeigt und muss wohl mit einer Busse von einigen hundert Franken rechnen. 

 Christian Blättler mit dem schriftlichen Befund: Der Lastwagen im Hintergrund ist zu hoch. Bild: Pascal Linder (Erstfeld, 08. Juli 2022)

 

 

Etwas anders ist es beim Anhängerzug aus Polen, jener mit den rostenden Stossdämpfern. Nach der polizeilichen Kontrolle ist klar: Der mit Verpackungsmaterial beladene Lastwagen darf so nicht weiterfahren – er muss für eine ausführliche Inspektion in die Kontrollhalle. Der ukrainische Chauffeur klettert aus der Fahrerkabine. Er wirkt seelenruhig, als ihn die Kontrolleure über die weiteren Schritte informieren. 

 

 

Keine systematischen Kontrollen erlaubt

Wenige Meter neben der Kontrollstation unterhält sich Stefan Simmen, Leiter des Schwerverkehrszentrums Uri, mit einem seiner Mitarbeitern, der gerade mit dem Velo auf dem Weg in den Feierabend ist. «Vorhin habe ich einen Lastwagen mit 1,7 Millionen Kilometer gesehen. Der Chauffeur war 72 Jahre alt», erzählt der Mann seinem Chef. Der Lastwagen ist also rund 43-mal um den Äquator gefahren. 

 

Beim Camion wurden keine Mängel festgestellt und er konnte wieder auf die Autobahn einspuren. Im Areal Ripshausen bei Erstfeld, umgeben von einer mächtigen Bergkulisse, müssen alle Lastwagen, die in Fahrtrichtung Süd unterwegs sind, die Autobahn verlassen. Ob ein LKW dann auch kontrolliert wird, ist dem Zufall überlassen, wie Stefan Simmen erklärt: 

 

«Wir machen nur Stichproben und dürfen nicht systematisch kontrollieren.»

 

Ausländische Transportunternehmen, die in der Vergangenheit bereits negativ aufgefallen sind, dürfen bei den Kontrollen nicht diskriminiert werden. Dies ist im Landesverkehrsabkommen mit der EU festgehalten.

 

 In der polizeilichen Kontrolle werden die Lastwagen und Chauffeure geprüft. Bild: Pascal Linder (Erstfeld, 08. Juli 2022)

 

Bei der Einfahrt auf das Gelände müssen die Lastwagen zuerst über eine dynamische Vorwaage fahren. Dabei können die Chauffeure zwischen zwei Spuren auswählen, in die polizeiliche Kontrolle muss immer nur eine Spur, die vorgängig als Kontrollspur festgelegt wurde. Doch nicht nur der Zufall entscheidet darüber, ob ein Camion kontrolliert wird: Auffällige Lastwagen werden in der Triage ebenfalls aus dem Verkehr gezogen, selbst dann, wenn sie nicht auf der auserwählten Spur sind. Stefan Simmen sagt dazu:

 

«Hören, riechen und schauen: Das sind unsere wichtigsten Sinne.»

 

Die Kontrolleure würden mit der Zeit ein Gespür dafür entwickeln, welche Lastwagen Verdacht auf technische Mängel aufweisen. Über 357'000 Lastwagen passieren jährlich das Kontrollzentrum Ripshausen. Am Fusse des Gotthards werden pro Tag bis zu 80 Lastwagen polizeilich kontrolliert. Für manche ist das zu wenig. So fordert etwa der Verein Alpeninitiative, dass mindestens jeder zehnte Lastwagen kontrolliert wird. Der Verein möchte zudem forcieren, dass der Gütertransport von der Strasse auf die Schiene verlagert wird. Für Stefan Simmen ist im Sinne des Bundesauftrages klar, dass es bei den Kontrollen auch darum geht, zwischen dem Schienen- und Strassenverkehr gleich lange Spiesse zu schaffen.

 

Von der Extraschleife auf dem Kontrollgelände sind jedoch nicht alle Spediteure begeistert, wie die zahlreichen negativen Google-Rezensionen des Schwerverkehrszentrums zeigen: «Nur Abzocke, die Schweizer füllen die Staatskasse auf», kommentiert jemand. «Kobolde in Uniform!», schreibt ein anderer. Stefan Simmen reagiert entspannt auf die Äusserungen im Internet:

 

«Diese negativen Kommentare bedeuten für mich, dass wir unsere Arbeit richtig machen.»

 

Stefan Simmen ist Chef des Schwerverkehrszentrums Uri. Bild: Pascal Linder (Erstfeld, 08. Juli 2022)

Hier und da falle bei einer Kontrolle mal das eine oder andere laute Wort – handgreiflich sei aber noch nie jemand geworden, sagt Simmen.

 

Jedes dritte Fahrzeug wird beanstandet

Dass die Arbeit der Spezialisten aus dem Schwerverkehrszentrum nötig ist, bestätigt ein Blick in die Kontrollstatistik der Urner Polizei aus dem letzten Jahr: Insgesamt wurden im Kanton Uri 16'264 Lastwagen und Lieferwagen kontrolliert, wovon rund ein Drittel beanstandet wurde – 2181 Fahrzeuge mussten gar stillgelegt werden. Mehr als 13'000 der beanstandeten Lastwagen stammen aus dem Ausland. Weil einige Spediteure das Kontrollgelände umfahren, führt die Urner Polizei rund 50 mobile Kontrollen pro Jahr auf dem ganzen Kantonsgebiet durch. 

 

Zahl der Verstösse nimmt ab

Als das Schwerverkehrszentrum Uri 2009 eröffnet wurde, war die Zahl der Widerhandlungen noch deutlich höher: «Die Chauffeure und Transportfirmen haben gelernt, worauf wir achten», ist Simmen überzeugt. In der Anfangszeit seien rund 1800 Ruhezeit-Verstösse festgestellt worden, jetzt seien es noch gut 800 pro Jahr. 

 

«Unsere Mitarbeitenden sind stolz auf ihren Job. Wir tragen nämlich wesentlich zur Sicherheit im Strassenverkehr bei. Das sehen wir auch an den reduzierten Unfallzahlen mit beteiligten Schwerfahrzeugen auf der Gotthardstrecke.»

 

Es war der 24. Oktober 2001, als im Gotthard-Strassentunnel zwei Lastwagen kollidierten. Beim Unfall brach ein Feuer aus, elf Menschen starben. Das Tragische: Der Unfallverursacher war betrunken. Seit dem Inferno wurde die Sicherheit auf der Gotthardachse laufend erhöht, das Schwerverkehrszentrum Uri ist nur eine der Massnahmen. Seit der Katastrophe im Jahr 2001 wird der Verkehr im Gotthardtunnel dosiert. Pro Stunde dürfen maximal 1000 PW-Einheiten in einer Richtung den Tunnel befahren – ein Lastwagen entspricht drei PW-Einheiten. 

 

Wenn sich zu viele Lastwagen vor der Dosierampel auf der A2 stauen, steht auf dem 70'000 Quadratmeter grossen Kontrollgelände ein Warteraum mit Platz für bis zu 500 Lastwagen zur Verfügung – letztes Jahr musste der Schwerverkehr in Erstfeld 58 mal angehalten werden. Die Chauffeurinnen und Chauffeure nutzen das Areal auch, um zu pausieren oder übernachten – Duschen stehen gratis zur Verfügung. 

 

Im Tessin wird bald ein neues Kontrollzentrum eröffnet

Im Kontrollzentrum Ripshausen wird hauptsächlich der Schwerverkehr in Richtung Süden kontrolliert, die Gegenrichtung nur in Ausnahmefällen. Ennet dem Gotthard, mitten in der Leventina, soll ein neues Schwerverkehrszentrum für noch mehr Sicherheit auf der Nord-Süd-Achse sorgen.

 

Das Kontrollzentrum in der 900-Seelen-Gemeinde Giornico soll im Herbst eröffnet werden. Der Bau auf dem Areal des ehemaligen Stahlwerks Monteforno verzögerte sich aufgrund zahlreicher Einsprachen. Ursprünglich hätte das Tessiner Kontrollzentrum bereits 2016 eröffnet werden sollen. 

 

Lastwagen auf dem Prüfstand

Zurück zum polnischen Lastwagen mit den rostenden Stossdämpfern. Allmählich öffnet sich das Rolltor der geräumigen Kontrollhalle. Christof Theiler fährt den Anhängerzug vorsichtig auf den Prüfstand.

Der Lastwagen muss in die Kontrollhalle einfahren. Bild: Pascal Linder (Erstfeld, 8. Juli 2022)

Die Kontrolleure führen nun die Bremstests auf allen Achsen durch. Das Resultat: Die Bremsen bei der Hinterachse funktionieren nur ungenügend. Christof Theiler notiert den Mangel auf seinem Protokoll und sagt:

 

«Die Abweichung ist zwar nicht allzu schlimm, da der Anhänger aber nur eine Achse hat, fällt es eher ins Gewicht.»

 

Christof Theiler nimmt die Unterseite des Lastwagens genaustens unter die Lupe. Bild: Pascal Linder (Erstfeld, 8. Juli 2022)

 

Die Mängelliste wird noch länger, nachdem er zusammen mit seinem Kollegen Eduard Gisler den Lastwagen von unten inspiziert hat: Mehrere defekte Lichter sowie mangelhafte Stossdämpfer kommen dazu. 

 

Nach gut 30 Minuten ist die Kontrolle auf dem Prüfstand beendet. Jetzt muss der ukrainische Chauffeur seinen Laster parkieren, bevor in der Schalterhalle sämtliche Formalitäten erledigt werden. Der Chauffeur wartet hinter der Glasscheibe mit aufgestütztem Ellbogen, während Eduard Gisler die Daten aus der Kontrolle auswertet.

 

Mit einer Unterschrift bestätigt der Camioneur, dass er alle festgestellten Mängel zur Kenntnis nimmt und dass er über seine Rechte informiert ist – das Formular gibt es in 25 verschiedenen Sprachen. Kleine Verstösse werden mit einer Ordnungsbusse geahndet, bei grösseren müssen die Chauffeure eine Kaution hinterlegen. Gisler reicht dem Chauffeur eine Liste mit rund 20 Reparaturwerkstätten aus der Region.

 

Das Erstfelder Kontrollzentrum dürfte für die lokalen Garagisten ein Segen sein: «Wir gehen davon aus, dass unser Zentrum für die regionalen Werkstätten wirtschaftlich attraktiv ist», sagt Stefan Simmen. Die Chauffeusen und Chauffeure dürfen aber auch Mechaniker aus ihrer Heimat auf das Areal bestellen. Der ukrainische Chauffeur darf erst weiterfahren, wenn sein Lastwagen wieder in verkehrssicheren Zustand ist.